Die Lesung und das Gespräch mit Olga Grjasnowa fanden online statt.
Das Vakuum zwischen Heimat und Fremde
Für ihr neustes Buch «Der verlorene Sohn» wählte die 36-jährige Autorin Olga Grjasnowa den Kontext des Kaukasischen Kriegs von 1839 und erzählt von einem Kind, das zwischen zwei Kulturen und zwei Religionen steht und dabei seine Identität finden muss. Das Thema konfrontierte sie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte.
Jamalludin, der neunjährige Sohn des Grossimam Schamil, wird an den Feind als Geisel gegeben, damit die Friedensverhandlungen aufgenommen werden können. Der Junge kommt somit an den Hof des Zaren nach St. Petersburg und schon bald ist der Junge zwischen der Sehnsucht nach seiner Familie und den verlockenden Möglichkeiten, die sich ihm in der prächtigen Welt des Zaren bieten, hin- und hergerissen.
Im Gespräch mit Nicole Dreyfus anlässlich der Online-Lesung vom 22. März erklärte die Autorin mit den aserbaidschanischen Wurzeln, dass sie den Stoff zu dieser Geschichte zufällig entdeckt habe. Sie wusste zwar, dass es diesen Imam Schamil im 19. Jahrhundert gab. Aber die Geschichte seines Sohnes kannte sie nicht. «Und als ich angefangen hatte, mich mit diesem historischen Stoff zu beschäftigen, war ich plötzlich mit meiner eigenen Herkunft konfrontiert.» Das Schreiben dieses Buches gab ihr die Möglichkeit, ihre eigene Biografie zu verstehen.
«Ich bin in Aserbaidschan geboren, bereits in sechster Generation. Trotzdem ist da ständig dieser Bezug zwischen Russland und Aserbaidschan, das Verhältnis zwischen der UdSSR und den ehemaligen Sowjetrepubliken und natürlich all die Probleme des post-sowjetischen Raums.» So spreche sie auch nur Russisch, und nicht etwa Aserbaidschanisch. Das sind offensichtlich alles Fragen, die sich schon vor 150 Jahren gestellt hatten und die auf einmal wieder aktuell sind. Bei der Recherche des Buches habe sie sich dann mit der Geschichte und der Kolonisation des Kaukasus auseinandergesetzt. «Ich glaube, die meisten Probleme, die in dieser historischen Geschichte geschildert werden, sind nach wie vor, zumindest in Russland, aber auch im Kaukasus, nicht gelöst.»
Das Buch ist also von aktueller Brisanz, der historische Roman eine Metapher für die Gegenwart. Hinzu kommt das Austarieren der eigenen Identität, sowohl für Grjasnowa als auch für den Protagonisten Jamalludin. Dieser wird geködert mit Prunkt und Wohlstand und lebt extrem privilegiert in dieser neuen Welt. Dennoch kann er sich nicht wirklich darauf einlassen. Dieses Changieren dieser Figur habe sie sehr gereizt, so Grjasnowa. Gekonnt wickelt sie diesen Wechsel ums Thema Sprache. Jamalludin verliert mit der Zeit seine eigene Muttersprache, damit bröckelt auch seine alte Identität ab. Dass Sprache und Identität immer aneinandergekoppelt sind, weiss auch die heute in Berlin lebende Autorin. Mehrsprachigkeit gehörte in ihrer Familie immer dazu. Doch die Muttersprache wechselte pro Generation. «Das deutsche Wort ‹Muttersprache› ist eigentlich unpräzise gewählt. Und sehr emotional geladen. Denn es sagt nichts über die eigentliche Sprachfähigkeit des Menschen aus. Die Muttersprache meiner Grossmutter war noch Jiddisch. Die Muttersprache meiner Mutter ist komplett Russisch, vielleicht noch mit minimalen jiddischen Einschlägen. Ich verstehe kaum noch Jiddisch, höchstens vom Westdeutschen her. Meine Muttersprache ist noch Russisch, aber heute hauptsächlich Deutsch. Und obwohl ich mich mit meinen Kindern auf Russisch unterhalte, ist deren Muttersprache wiederum Deutsch.» Sich also auf eine Nationalität zu beschränken, wäre für Grjasnowa seltsam. Trotzdem spielen Identität, Heimat und die Frage nach der Kultur in jedem ihrer Bücher eine zentrale Rolle. Ihr Erstlingswerk «Der Russe ist einer, der die Birken liebt» wurde mit dem Anna-Seghers-Preis 2012 prämiert. Als nächstes folgte «Die juristische Unschärfe einer Ehe» und «Gott ist nicht schüchtern», ein Roman über den syrischen Bürgerkrieg. «Der verlorene Sohn» erschien 2020 im Aufbau-Verlag.
Gespräch, Moderation und Bericht: Nicole Dreyfus
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