Freitag, 16. September 2022, 20.00 Uhr

«Gedichte wirken als Brücken aus Papier»


Am 16. September startete die Lesegesellschaft Wädenswil in die neue Saison. Aus aktuellem Anlass begrüsste der Präsident Ruedi Peter dazu im katholischen Kirchgemeindehaus die ukrainische Autorin Halyna Petrosanyak sowie die Ukrainekennerin und Kunst- und Literaturvermittlerin Judith Schifferle.

Seit 2016 lebt Halyna Petrosanyak in der Schweiz und übersetzt Prosa aus dem Deutschen ins Ukrainische, schreibt Lyrik, Essays und Erzählungen. Judith Schifferle ist seit 1999 häufig unterwegs durch Mitteleuropa bis nach Eurasien. In der Ukraine hielt sie sich oft länger auf. Daher ist es ihr ein grosses Anliegen, über die Ukraine zu berichten und die Lyrik, der in der ukrainischen Literatur ein besonderer Stellenwert zukommt, bekannt zu machen. So bot der Anlass den Gästen ein Eintauchen in die ukrainische Literatur und − wenig verwunderlich − eine Geschichtslektion über die seit jeher schwierige Beziehung der Ukraine zu Russland.

 

Der Abend stand unter den Titel «Gedichte sind wie Brücken aus Papier». In ihren Ausführungen wiesen die beiden auf die verschiedenen Arten von Brücken hin. So trugen und tragen die papierenen Brücken die Literatur und den sprachlichen Reichtum der Ukraine in die Welt. Gleichzeitig gelangten über die Sprach-Brücke Stipendien aus Österreich und Deutschland an ukrainische Autorinnen und Autoren – mit dem Ergebnis, dass die im Verlaufe des letzten Jahrhunderts zunehmend unterdrückte ukrainische Sprache, Kultur und somit auch die Literatur an Eigenständigkeit wuchsen und sich gegen das übermächtige Russische behaupten konnten.

 

Halyna Petrosanyak erklärte dazu, dass Russland die ukrainische Sprache zur Bauernsprache degradiert hätte, in der weder geschrieben und publiziert noch gelehrt werden durfte. Die russische Sprache hingegen hätte als Türöffner für gut bezahlte Jobs gewirkt bzw. für eine bessere Stellung in der Gesellschaft. Aus dieser so genannten Zwangsrussifizierung und der Herabwürdigung der ukrainischen Sprache habe sich – so Petrosanyak− mit der Zeit das trügerische Bild einer grossen russischen Kultur und einer grossen russischen Gemeinschaft entwickelt. Dem gegenüber stehe das geschichtlich begründete Zugehörigkeitsgefühl des ukrainischen Westens zu Westeuropa. Denn dieser gehörte einst zum habsburgischen Reich. Die Orientierung ihres Landes nach Westen ist für Petrosanyak, die in Iwano-Frankiwsk im westukrainischen Galizien aufgewachsen ist, eine ihre literarische Arbeit durchdringende Thematik. Eine Thematik, die leider in der Gegenwart eine besondere Aktualität erhält.

 

Unter dem Titel “Exophonien” erschienen Petrosanyaks gesammelte Gedichte erstmals auf Deutsch. Viele entstanden 2014 nach dem russischen Einmarsch in die Krim bzw. in den Donbass. Die Aktualität zeigt sich zum Beispiel in diesem Gedicht: «Du sollst dich nicht wehren, / das ist überholt, / sagen die Nachbarn zu ihr. / Sei / gescheit: / Lass dich / nett lächelnd / in Stücke zerreissen / und vergiss alles». Und am Schluss des Gedichts «Rechne nicht mit meiner Zerbrechlichkeit» heisst es, im Wissen um die Widerstandskraft der Ukraine: «Verlasse dich nicht auf die Waffe, denn mich verwunden kann nur der, den ich liebe.»

 

Das Publikum dankte den beiden für ihr engagiertes Einstehen für die ukrainische Sache mit einem herzhaften Applaus.