Freitag, 16. Februar 2024, 20 Uhr

Schule des Sehens – Ein Abend mit Martina Clavadetscher


Stadtbibliothek Wädenswil, Dachstock


War es die Anwesenheit einer Trägerin des Schweizer Buchpreises? War es das Thema des Buches «Vor aller Augen»? War es der fast frühlingshaft milde Abend? – Wie auch immer: Der Veranstaltungsraum in der Stadtbibliothek war bis auf den letzten Platz besetzt, als Hedi Stillhard von der Lesegesellschaft Wädenswil Martina Clavadetscher und Daniela Haag, die Moderatorin des Abends, begrüsste. Die Anwesenden sollten es nicht bereuen, gekommen zu sein. 

 

Martina Clavadetscher bot, unterstützt von einer klugen Moderation, nicht weniger als eine Schule des Sehens. Im Buch «Vor aller Augen» kommen 19 Frauen zu Wort, die einst von Berühmtheiten wie Leonardo da Vinci, Egon Schiele oder Vincent von Gogh gemalt wurden. 19 Frauen, deren Körper, deren Blick und Gesichtsausdruck gleichsam zum Weltkulturerbe gehören, ohne dass wir auch nur ihren Namen gekannt hätten. Martina Clavadetscher nennt sie nun endlich beim Namen und gibt ihnen eine Stimme. Sie hat Wissen über sie zusammengetragen und lässt sie «Vor aller Augen» zu uns reden. Wir sahen das Portrait an der Wand und erfuhren, wie die meist jungen Frauen in ihrer Zeit lebten, wie es zum Portrait kam und in welcher Beziehung die Modelle zu ihren Malern standen. Und während die Autorin Walburga Neuzil, gezeichnet von Egon Schiele, Margherita Luti, gemalt von Raffael, und Mélie, portraitiert von Eugene Delacroix, ihre Stimme lieh, wandelte sich unser Blick auf die Bilder, die wir sahen. Ein Haarschmuck, ein Brusttuch, eine Geste, die wir kaum beachtet hatten, wurden unvermittelt zum Schlüssel, um das Bild zu verstehen. Das war die zentrale Erfahrung an diesem Abend: Wissend sehen wir anders und Anderes.  

 

 

Im Gespräch legte Martina Clavadetscher Wert darauf, dass sie bei ihren Recherchen fast auf nie auf Schicksale von ausgebeuteten und erniedrigten Frauen stiess, sondern auf selbstbewusste, lebenskluge Frauen, die den Malern auf «Augenhöhe» begegneten. Rembrandt zum Beispiel verdankte seinen ökonomischen Erfolg als Künstler einem seiner Modelle.

 

Für die Lesegesellschaft: Thomas Duetsch

 

Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek Wädenswil

 

Martina Clavadetscher, geboren 1979, Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie arbeitete für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Die Erfindung des Ungehorsams» erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis.